
- Völlig überraschend hat die FDP die Jamaika-Sondierungen platzen lassen
- Wie konnte es soweit kommen? Eine Chronik der Schicksalsnacht in Tweets
Um Mitternacht stehen sie da: FDP-Chef Lindner, seine Generalsekretärin Nicola Beer und Vize Wolfgang Kubicki, in Reih und Glied aufgestellt, in Berlins Herbstkälte.
Lindner liest von einem Zettel die Worte ab, die das Ende von Jamaika bedeuten: “Lieber gar nicht regieren, als falsch zu regieren”, sagt er. Damit hatte niemand gerechnet. Öffentlichkeit, Politiker von Union und Grünen: Sie alle hatte Lindner überrumpelt.
Nun herrscht Ratlosigkeit in Berlin.
Wie konnte es zum Abbruch der Verhandlungen auf der Zielgeraden kommen? Ein Chronik des Scheiterns des letzten Verhandlungstags in Tweets.
Vorweg die Ausgangslage am Sonntag:
► Gegen Mittag treffen die Vertreter von Union, FDP und Grüne in der Landesvertretung Baden-Württemberg ein.
► Über den Nachmittag sollten die strittigsten Punkte nochmal verhandelt werden: Migration, Klimaschutz und Energie. Hier lagen die Parteien bislang über Kreuz.
► Die Teilnehmer geben sich verhalten optimistisch.
Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner sagt, er gehe zuversichtlich in den Tag.
► Die FDP-Spitze zeigte sich jedoch verärgert über den Grünen-Politiker Jürgen Trittin. Der hatte in der “Bild am Sonntag” gesagt, bei den Sondierungen hätten die Grünen beim Streitpunkt Migration die “Schmerzgrenze” erreicht.
14.30 Uhr: Verhandlungen geraten ins Stocken
Nur wenige Stunden nach Beginn der Verhandlungen geraten diese ins Stocken.
Gegen 14 Uhr werden die Sondierungen das erste Mal unterbrochen, dringt nach außen. Warum genau, ist bis heute unklar. Die Parteichefs beraten, wie es weitergehen soll.
Höre aus mehreren Parteien bei #Jamaika-Sondierung, Chefs klärten gerade, ob es noch Sinn mache weiterzureden.
— ThomasWalde (@ThomasWalde) 19. November 2017
Später stellt sich heraus: Die FDP zieht sich aus den Verhandlungen zurück und überlässt den Parteichefs von Union und Grünen die Verhandlungen.
Man wolle dann entscheiden, ob man mit dem Paket leben könne.
15.30 Uhr: “FDP würde Ja sagen”
“Die FDP würde Ja sagen”, schreibt Generalsekretärin Nicola am frühen Nachmittag auf Twitter. “Die Inhalte liegen auf dem Tisch”.
"Die @fdp würde 'ja' sagen", erklärt Generalsekretärin @nicolabeerfdp am Rande der #Jamaika -Sondierungsgespräche im #BerichtausBerlin pic.twitter.com/H8irBpNZzO
— Bericht aus Berlin (@ARD_BaB) 19. November 2017
Beobachter glauben: Eine Einigung steht kurz bevor.
18.00 Uhr: Die Sondierungen gehen erneut in die Verlängerung - Ratlosigkeit macht sich breit
Die kurze Euphorie hält nicht lange.
Eigentlich wollten die Parteien bis 18 Uhr vor die Kameras treten und eine Einigung erklären. Doch dazu kommt es nicht. Union, FDP und Grüne brauchen länger.
Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner schreibt etwa auf Twitter, die “Uhr ist angehalten”:
sagen wir doch einfach, die Uhr ist angehalten #Jamaikasondierungen https://t.co/YJp4rgBqmL
— Michael Kellner (@MiKellner) 19. November 2017
Nach Informationen von "Focus Online" reden Merkel und Seehofer seit einer Stunde mit den Grünen. Keiner wisse, wie es jetzt weitergehe.
22.45 Uhr: Die Stimmung schlägt um
Über Stunden dringt wenig bis gar nichts aus den Sondierungen nach draußen.
Am späten Abend dann twitter FDP-Generalsekretärin Beer: “Die Entwicklung dreht sich.” Wenige Stunden später sollte klar werden, in welche Richtung.
Lage unklar, Entwicklung in Berlin dreht sich. Pakete wurden wieder aufgeschnürt... @fdp @Liberale_News @CDU @CSU @Die_Gruenen #btw17 #Jamaika🇯🇲
— Nicola Beer (@nicolabeerfdp) 19. November 2017
23.00 Uhr: Jamaika versinkt im Chaos
Kurz vor Mitternacht versinken die Verhandlungen im Chaos.
Jamaika habe sich darauf geeinigt, den Soli bis 2021 abzuschaffen, heißt es. Außerdem hätten sich die Grünen dazu bereit erklärt haben, einer Einstufung von Algerien, Tunesien, Marokko als sichere Herkunftsstaaten zuzustimmen.
#Jamaika-Sondierung: #Grüne stimmen wohl sicheren Herkunftsstaaten Algerien, Tunesien, Marokko zu. Familiennachzug weiter offen. #BILD
— Moritz Wedel (@Netzreporter) 19. November 2017
Eine Sensation. Einzig: Sie stimmt nicht. Beide Meldungen gehen auf den CSU-Politiker Hans Michelbach zurück, der sich wenig später selbst dementierte.
Hans Michelbach (CSU) dementiert sich nach wenigen Minuten selbst. Beide Sachen (Soli + sichere Herkunftsstaaten) seien nicht verifiziert. #Jamaika-Kommunikation? Läuft.
— Ulrich Schulte (@UlrichSchulte) 19. November 2017
In der Zwischenzeit sah sich FDP-Generalsekretärin Nicola Beer gezwungen, die Soli-Meldung zu dementieren.
Das Thema gehört zu den Kernforderungen der Liberalen. Auf Twitter schrieb sie, "Herr Michelbach hat seine Erkenntnis offenbar aus anderen Verhandlungen":
Herr Michelbach hat seine Erkenntnisse offenbar aus anderen Verhandlungen. Keine Einigung zum Soli! @fdp @Liberale_News @CDU @CSU @Die_Gruenen #btw17 #jamaika🇯🇲 https://t.co/SOT5CNHWqF
— Nicola Beer (@nicolabeerfdp) 19. November 2017
Es wird klar: Es herrscht dicke Luft bei den Sondierungen.
23.48 Uhr: Die FDP lässt die Bombe platzen
FDP-Fraktionssprecher Nils Droste sagt, die Liberalen zögen sich aus den Gesprächen zurück.
FDP bricht Jamaika-Verhandlungen ab https://t.co/jCx1AboAjU (fho) pic.twitter.com/3vw8zhSSup
— dpa (@dpa) November 19, 2017
Es ist ein Schock.
Die anderen Verhandler sind darauf offenkundig nicht vorbereitet. Denn es wird noch dauern, bis sie sich so weit gesammelt haben, dass sie selbst vor die Presse treten.
23.55 Uhr: FDP-Chef Lindner begründet den Rückzug
Es dauert nur wenige Minuten, bis die FDP auch auf Twitter in einem Foto den Rückzug erklärt. Wenig später ist das Foto auch auf den Profilen der Spitzenpolitiker zu finden.
Den Geist des Sondierungspapiers können wir nicht verantworten. Wir wären gezwungen, unsere Grundsätze aufzugeben und alles das, wofür wir Jahre gearbeitet haben. Wir werden unsere Wähler nicht im Stich lassen, indem wir eine Politik mittragen, von der wir nicht überzeugt sind. pic.twitter.com/Jnw6ukJFRL
— FDP (@fdp) 19. November 2017
Weil das überaus schnell ging, vermuten einige, dass die Liberalen den Austritt lange vorher vorbereiteten.
Parteichef Lindner begründet den Abbruch vor den Kameras. Und ausgerechnet er, der sonst am liebsten frei redet, spickt immer wieder auf einem Zettel. Später wird das als Indiz dafür gelten, dass er den Rückzug schon mal vorbereitet hat.
Das vollständige Statement des #FDP-Vorsitzenden Christian Lindner zum Abbruch der #Jamaika-Gespräche @c_lindner pic.twitter.com/wbosmmKNS0
— ZDF heute journal (@heutejournal) 19. November 2017
23.59 Uhr: FDP verlässt fluchtartig die Sondierungen
Nach der Pressekonferenz von Lindner geht alles ganz schnell. “Fluchtartig verlässt die FDP die Landesvertretung”, schreibt Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner.
fluchtartig verlässt die FDP die Landesvertretung BaWü #JamaikaSondierung
— Michael Kellner (@MiKellner) 19. November 2017
Zwei Limousinen warten auf die Parteiführung, um diese an der Landesvertretung abzuholen. Die übrigen Verhandler müssen in der Kälte auf Taxis warten. “Ein unwürdiges Bild”, kommentiert eine ZDF-Moderatorin das Spektakel.
0.15 Uhr: CDU-Vize-Klöckner findet: Anstand geht anders
Die erste hochrangige CDU-Politikerin äußert sich zur Misere: Parteivize Julia Klöckner. “Gut vorbereitete Spontanität”, twittert sie über die FDP. Und bezeichnet den Rückzug der FDP im Alleingang indirekt als unanständig.
Das kann man so machen, wie die FDP es tat, muss man aber nicht. Gut vorbereitete Spontanität. Aber wir gehen weiter respektvoll mit allen um und respektieren die Entscheidung. Anständig wär es gewesen, wenn alle Parteivorsitzenden gemeinsam den Abbruch hätten verkünden können
— Julia Klöckner (@JuliaKloeckner) 19. November 2017
1.00 Uhr: Die Grünen-Spitze macht ihrem Ärger Luft
Seit mehr als einer Stunde kritisieren die Grünen-Politiker die FDP auf Twitter, jeder für sich:
Europapolitiker Jan Philipp Albrecht schimpft, ausgerechnet die Partei, die mit den wenigsten Überzeugungen in die Gespräche gegangen sei und dennoch die wenigsten Zugeständnisse gemacht habe, breche ab. “Das ist der neue Lindner-Populismus.”
Krass. Die Partei, die mit den wenigsten Überzeugungen in die Gespräche gegangen ist und dennoch am wenigsten Zugeständnisse gemacht hat, bricht nach 4 Wochen die Verhandlungen ab. Das ist der neue #Lindner-Populismus der #FDP. #Jamaika
— Jan Philipp Albrecht (@JanAlbrecht) November 19, 2017
Konstantin von Notz saß eben noch in der Talkshow von Anne Will und hatte gesagt: “Ich glaube immer, dass die Dinge gut am Ende ausgehen können.” Kurz darauf bleibt ihm nur zu twittern, die FDP “macht sich aus dem Staub”.
Die #FDP wollte es nicht, und macht sich jetzt aus dem Staub #Jamaika
— Konstantin v. Notz (@KonstantinNotz) November 19, 2017
Der haushaltspolitische Sprecher, Sven Kindler, zeigt sich erbost: “Die FDP hat doch von Anfang an auf dieses Szenario hingearbeitet und blockiert, wo geht.”
Sorry, was für eine Show von @c_lindner. Die #FDP hat doch von Anfang an auf dieses Szenario hingearbeitet und blockiert, wo geht. #jamaika
— Sven Kindler (@sven_kindler) November 19, 2017
Robert Habeck fühlt sich von der FDP in “Geiselhaft” genommen. Der Abbruch sei doch von langer Hand vorbereitet worden.
@fdp, - das war von langer Hand vorbereitet. Dass ihr uns hier einen Tag in Geiselhaft genommen habt, nehme ich persönlich übel. #Jamaika
— RobertHabeck (@RobertHabeck) 19. November 2017
Gegen ein Uhr macht die Grünen-Spitze ihrem Ärger und ihrer Enttäuschung dann offiziell in einer Pressekonferenz Luft.
Bundestagsfraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagt: “Ein Bündnis hätte zustande kommen können." Parteichef Cem Özdemir sagt: "Wir waren für eine Verständigung bis zur letzten Sekunde bereit. Aber ein Partner hatte sie offenbar schon länger nicht mehr."
Grünen-Verhandlungsführerin Göring-Eckardt zu Abbruch der Sondierungsgespräche: "Nur in wenigen Punkten noch auseinander" #Jamaika pic.twitter.com/zT6GUYNmoV
— tagesschau (@tagesschau) 20. November 2017
1.03 Uhr: Merkel beendet ihr quälendes Schweigen
Die Bundeskanzlerin spricht über den Abbruch der Verhandlungen an diesem “historischen Tag” nach “4 Wochen intensivster Verhandlungen”. Auffällig: Sie kritisiert zwar den Verhandlungsstil der Grünen, nicht aber die FDP.
Man kann es nicht anders beschreiben: Die Kanzlerin sieht fertig aus.
Das Statement von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): „Ein Tag mindestens des tiefen Nachdenkens, wie es weitergeht in Deutschland.“ pic.twitter.com/MhymF9qRMG
— ZDF heute journal (@heutejournal) 20. November 2017
1.12 Uhr: Seehofer nennt Jamaika-Ende eine “Belastung”
CSU-Chef Horst Seehofer sagt, er halte den Abbruch der Verhandlungen eine “Belastung” für Deutschland. Eine Einigung sei “zum Greifen nah” gewesen.
„Es ist schade, dass es nicht gelungen ist, dies zu Ende zu führen, was zum Greifen nah war.“ Die Reaktion von #CSU-Chef Horst Seehofer pic.twitter.com/xRvwoomc6p
— ZDF heute journal (@heutejournal) 20. November 2017
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